Eine mittlerweile vor allen Dingen bei Besuchern beliebte
Gepflogenheit in der schottischen Hauptstadt Edinburgh ist das tägliche,
außer sonntags, Ertönen der „One o’clock Gun“. Abgefeuert aus der Höhe
von Edinburgh Castle bedeutet der Schuss der Kanone die exakte Tageszeit
von ein Uhr mittags. Was heute, in Zeiten von Atom- und Funkuhren, von
den Touristen als spleenige, gleichwohl traditionell unterhaltsame
Marotte angesehen wird, hat durchaus einen historischen Hintergrund. Und
dies schon seit mehr als 150 Jahren. Die Bürger der Stadt forderten in
der Mitte des 19. Jahrhunderts eine akkurate, weithin erkennbare
Zeitmessung.
Auch in der Seefahrt am Firth of Forth benötigte man
dringend eine hilfreiche Möglichkeit zur korrekten Justage von Uhren
und Navigationsgeräten. So wurde 1861 der „Time Ball“ auf dem Nelson
Monument am Calton Hill installiert. Die Kugel bewegte sich stetig
aufwärts um Punkt Eins von der Spitze hinunterzufallen. Eine findige
Idee, die nur bedingt auf Gegenliebe stieß, denn man musste schon
pünktlich zum Hausberg hinaufblicken, um den richtigen Moment
mitzubekommen. Hingen die Wolken tief, blieb man hinsichtlich der
optischen Zeitansage im Ungewissen.
Schon im gleichen Jahr sollte
das Zeitsignal akustische Unterstützung bekommen mittels eines
Kanonenschusses der Artillerie vom Castle aus. Um eine genaue
Übereinstimmung des fallenden Zeitballes mit dem Auslösen der Kanone zu
erreichen, wurde ein 1,5 Kilometer langes Kabel zum Observatorium auf
dem Calton Hill verlegt – das längste der Welt zu dieser Zeit – welches
mit dem Zündmechanismus der Kanone verbunden war. Die öffentliche
Einweihung dieser technisch aufwändigen Präzisionsarbeit geriet jedoch
zum Fiasko. Geladene Gäste, die das chronografische Schauspiel vom
Calton Hill aus beobachten wollten, hielten den Atem an, als am 5. Juni
der Time Ball pünktlich hernieder sauste und zeitgleich, mit vier
Sekunden Verzögerung aufgrund der Distanz, der Kanonenschlag erklingen
musste. Aber er tat es trotz geduldigen Wartens nicht. Enttäuscht zogen
alle wieder ab, um am nächsten Tag einem erneuten Versuch beizuwohnen.
Auch dieser misslang, weil, so stellte sich heraus, die Kanone ein
Auslöseproblem hatte.
Der Tradition verpflichtet betreibt man
diesen liebenswerten Anachronismus noch immer, wenngleich viele ältere
Edinburgher der Meinung sind, dass der Kanonenschuss heute nur niedlich
knallt, während er in den 60er und 70er Jahren noch ordentlich donnerte
und so manchem Passanten der Schreck in die Glieder fuhr. Viele
Anekdoten ranken sich um die diensthabenden Kanoniere: allen voran
Thomas McKay, Tam the Gun, der 26 Jahre lang diese Arbeit verrichtete
und das kleine Museum in Edinburgh Castle über die Kanone initiierte.
Derzeit besorgt diesen Job sogar eine Frau, die zu Neujahr einen
Extra-Schuss abgeben darf.
Fotocredits: Udo Haafke