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Arbuthnott und Grassic Gibbon Centre

von Wilfried Klöpping

Auf den Spuren schottisch-deutscher Literaturgeschichte – Ich muss unwillkürlich schmunzeln, während ich auf der gewundenen Landstraße den Schildern nach Arbuthnott und dem Grassic Gibbon Centre folge. Wie so viele Besucher und neu Hinzugezogene hielt ich die Schilder zunächst für den Hinweis auf eine Einrichtung, in der Langarmaffen gehalten werden. Tatsächlich ist dieses jedoch nach dem schottischen Schriftsteller Lewis Grassic Gibbon benannt, der in dieser Gegend aufgewachsen ist und sie in seinen Werken beschrieben hat. Isabella, Leiterin des Grassic Gibbon Centres, reicht mir zur Begrüßung die Hand: „Wie wäre es mit einer Tasse Tee?“ Dankbar nehme ich an. Draußen ist es nass-kalt und windig. Hier drinnen im Tearoom ist es hingegen behaglich warm. Während Isabella sich in der Teeküche zu schaffen macht, nehme ich Platz. Außer mir sind an diesem Herbstmorgen kaum Besucher hier. Nur ein Ehepaar mittleren Alters sitzt ein paar Tische weiter am Fenster. Sie haben ihre Regenjacken zum Trocknen über die Stuhllehnen gehängt und trinken bedächtig aus dampfenden Teetassen. Ihr Gespräch wird von keltischen Harfenklängen überlagert, die von einem Deckenlautsprecher herabrieseln.

Der Tearoom des Grassic Gibbon Centres fungiert nicht nur als Teestube sondern auch als Andenkenladen und Dorfzentrum. Arbuthnott ist ein friedlicher Weiler im Herzen der Mearns, versteckt zwischen den Grampian Mountains und der Nordseeküste. Die Gegend ist geprägt von Äckern und Schafswiesen, Hügeln und Hainen. Zu Arbuthnott gehören einige verstreut liegende Cottages und Arbuthnott House, seit dem 17. Jahrhundert der Wohnsitz der Viscounts of Arbuthnott. Das Herrenhaus, etwas abseits der Landstraße gelegen, kann während des Sommers zu ausgewählten Terminen besucht werden. Der gegenwärtige Lord Arbuthnott führt gelegentlich selbst durch die Gemächer. Zum Haus gehört ein Garten, der im 17. Jahrhundert angelegt wurde. Für einen kleinen Obolus teilen die Arbuthnotts ihr Privatparadies mit Besuchern. Mächtige alte Bäume, Rasenwege wie Teppichläufer, sorgsam gehegte Blumenbeete, kunstvoll getrimmtes Spalierobst, antike Gewächshäuser – die Jahrhunderte lange, kundige Pflege, die diesem Garten zuteil wird, ist auf Schritt und Tritt spürbar.

Ein kurzes Stück von Arbuthnott House entfernt liegt Arbuthnott Church. Die trutzige kleine Kirche mit ihrem romanischen Rundturm stammt aus dem 13. Jahrhundert. Umgeben von Wiesen und Weiden wacht sie über eine Schar teils verwitterter, teils neuer Grabsteine. Hier liegen die Viscounts of Arbuthnott begraben. Hier ist auch die Grabstätte des schottischen Schriftstellers James Leslie Mitchell alias Lewis Grassic Gibbon, dem das Grassic Gibbon Centre gewidmet ist und welches das Andenken an sein Leben und Werk pflegt. Isabella kehrt mit einem vollen Tablett zurück, verteilt Tassen, Löffel, Kekse und Teekanne auf dem Tisch. Nach schottischer Sitte nehmen wir uns zunächst Zeit für einen ausführlichen Austausch über das Wetter und die Straßenverhältnisse. Erst dann kommen wir zum eigentlichen Grund meines Besuchs. Er betrifft James Leslie Mitchells bekanntestes Werk, die Romantrilogie „A Scots Quair“ (‚Ein schottisches Buch‘), die er unter seinem Pseudonym Lewis Grassic Gibbon veröffentlichte. Im englischsprachigen Raum verbindet man den Autor zumeist mit dem ersten Band der Trilogie, „Sunset Song“. Der Roman diente als Vorlage für TV- und Bühnenfassungen. Das australische Gutenbergprojekt hat ihn ins Netz gestellt und die britische Tageszeitung The Guardian platzierte ihn auf seiner Liste der ‚1000 Romane, die jeder lesen sollte‘ direkt vor Goethes Werther.

In diesem Teil Schottlands ist man stolz darauf, dass die Region einen so bekannten Schriftsteller hervorgebracht hat. James Leslie Mitchell wuchs Anfang des 20. Jahrhunderts in Arbuthnott als Sohn eines Pachtbauern auf. Nach Verlassen der Schule arbeitete er zunächst als Journalist in Aberdeen und verfasste später Reiseberichte, Kurzgeschichten und Erzählungen. Die Härten der Landarbeit, die Begegnung mit der Lebenssituation der Arbeiter in Glasgow und die Erfahrung des Militärdienstes prägten sein politisches Denken und gaben seiner schriftstellerischen Tätigkeit eine sozialkritische, pazifistische und antifaschistische Prägung. Sunset Song und die Folgebände seines Romanzyklus sind seine letzten Werke, vollendet zwischen 1932 und 1934 kurz vor seinem frühen Tod im Alter von knapp 35 Jahren.

In Deutschland ist Mitchell alias Grassic Gibbon kaum bekannt. So scheint es jedenfalls. Wer die kleine Ausstellung im Grassic Gibbon Centre aufmerksam betrachtet, wird allerdings überrascht: Zwischen liebevoll zusammengestellten Artefakten befindet sich eine komplette deutschsprachige Ausgabe des Schottlandepos, sorgsam ausgebreitet auf der Hausjacke des Autors. Während eines Spontanbesuchs an einem Regensonntag hatte ich die Bücher entdeckt, die sofort meine Neugier weckten. Wann war die deutsche Version von Mitchells veröffentlicht worden? Von wem? Wieso hatte ich in den Jahrzehnten, die ich in Deutschland gelebt hatte, nie etwas davon gehört? Und wer hatte sich der herkulischen Herausforderung gestellt, die Romane zu übersetzen? Die Suche nach den Antworten auf diese Fragen entwickelte sich zu einer Recherche, die mich von Arbuthnott bis nach Berlin führen sollte.

Bei einer zweiten Tasse Tee präsentiere ich Isabella nun die Ergebnisse und erzähle ihr von meinen Erlebnissen. In Gedanken bin ich wieder im Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin und blättere durch Archivalien des ehemaligen Ostberliner Verlags Volk und Welt, der dieses ehrgeizige Übersetzungsprojekt realisiert hatte. Die Dokumente bescheren nicht nur einen nostalgischen Einblick in die vordigitale Ära, als Bürokorrespondenz noch mittels Schreibmaschine und Durchschlagpapier erledigt wurde. Sie belegen auch den Erfolg der deutschsprachigen Ausgaben von Mitchells Romanen. Zwischen 1970 und 1986 brachte der Verlag Volk und Welt insgesamt drei Auflagen in hoher Druckzahl heraus.

Das Erscheinen der Romantrilogie wurde in der damaligen DDR-Tagespresse lebhaft besprochen. Fast dreißig Zeitungskommentare sind überliefert, in denen die literarischen Leistungen des Autors und des Übersetzers gewürdigt werden. Die Erzählung beginnt in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg und endet am Beginn der dreißiger Jahre. Sie ist im Landstrich um Aberdeen teils an realen, teils an fiktiven Schauplätzen angesiedelt. Die Protagonisten sind Dörfler und Pachtbauern, Kleinstadtbürger und Industriearbeiter, deren Geschichte Mitchell in erdiger Sprache und kraftvollen Bildern erzählt. Dem Übersetzer, Dr. Hans Petersen, gelang das Kunststück, Mitchells dialektdurchsetzte Erzählsprache so ins Hochdeutsche zu übertragen, dass der Grundton der Erzählung erhalten bleibt und sich Orte, Landschaften, Stimmungen und Charaktere unmittelbar erschließen.

Wer das südliche Aberdeenshire besucht, erlebt Wiedererkennungseffekte. Ortsnamen wie Stonehaven, Drumlithie, Auchenblae oder Fettercairn weisen auf Dörfer und Gemeinden hin, die Mitchell in seinen Romanen erwähnt oder beschreibt. Die Slug Road, die sich zwischen Stonehaven und Banchory durch grüne Hügel schlängelt, macht er zum Schauplatz einer beschwerlichen Reise in harschem Winterwetter. Und vor der wild-romantischen Kulisse von Dunnottar Castle lässt er zwei seiner Protagonisten zarte Bande knüpfen. In Mitchells Erzählung teilt sich ein tiefes Gefühl für diesen Teil Schottlands mit, der gekennzeichnet ist durch eine einzigartige Melange aus kargen Bergen, fruchtbarem Ackerland, fischreicher Küste und den vielfältigen Zeugnissen seiner Geschichte – von den Steinkreisen der Megalithkultur bis zu den Wohnpalästen, die sich die Kaufleute Aberdeens im 19. Jahrhundert aus dem heimischen Granit bauen ließen.

Ob man die deutsche Übersetzung als Taschenbuch kaufen könne, möchte Isabella wissen. Deutsche Touristen würden manchmal danach fragen. Ich muss sie enttäuschen. Die Bücher wurden nach 1986 nicht mehr gedruckt und sind heute nur noch antiquarisch erhältlich. In der BRD wurden sie nie veröffentlicht – weder vor noch nach der Wende. Trotz ihres Erfolgs wurden sie in den räumlichen und zeitlichen Grenzen der ehemaligen DDR belassen und gerieten in Vergessenheit. Das Ehepaar am Fenster hat seinen Tee ausgetrunken. Sie grüßen freundlich zum Abschied und hinterlassen beim Hinausgehen einen Schwall kalte Luft. Auch für mich wird es Zeit, zu gehen. Doch bevor Isabella und ich uns voneinander verabschieden, blitzt ein Lächeln in ihrem Gesicht auf. „Wissen Sie übrigens, dass Sunset Song verfilmt werden soll?“ Ich bestätige, dass ich darüber in der Zeitung gelesen habe. Der britische Regisseur Terence Davies, bekannt für seinen Film „The Deep Blue Sea“, will sich des Mitchell-Klassikers annehmen. Vielleicht wird der Film ja irgendwann in deutschen Kinos gezeigt. Dann hätte der Autor aus dem schottischen Arbuthnott seinen zweiten Auftritt vor deutschem Publikum.

Recherche:

  • Persönlicher Briefkontakt mit Dr. Petersen, ehemaliger Lektor und Lektoratsleiter für englischsprachige Literatur beim Verlag Volk und Welt; (Mai/Juni 2012)
  • Einsichtnahme in die Vertragsakte zu A Scots Quair sowie in die archivierten Presseankündigungen und Rezensionen zu den einzelnen Bänden von Ein schottisches Buch – Archivalien des Verlags Volk und Welt / im Bestand des Literaturarchivs der Akademie der Künste in Berlin (Einsichtnahme am 7./8. August 2012);
  • Literaturrezension durch Ian Campbell, Gibbon and MacDiarmid in the German Democratic Republic. In: Books in Scotland, Winter 1976
  • Besuche von Arbuthnott Garden und ein Gespräch mit der verstorbenen Lady Arbuthnott.
  • Besuche von Arbuthnott Church, des Lewis Grassic Gibbon Centres und Gespräche mit der Leiterin (Fr. Isabella Williamson) September 2012
  • The Guardian: 1000 Novels Everyone Must Read; letzter Zugriff 08.10.2012
  • Project Gutenberg Australia, Lewis Grassic Gibbon: A Scots Quair, E-Book, ins Netz gestellt 2007; letzter Zugriff 02.11.2012


Weitere Quellen:

  • Douglas F. Young, Beyond the Sunset: A Study of James Leslie Mitchell (Lewis Grassic Gibbon), Aberdeen 1973
  • Christoph Links, Das Schicksal der DDR-Verlage, Berlin 2009


Regina Erich
-Stonehaven

Zusätzliche Informationen

Fotocredits: Arbuthnott Estate / Grassic Gibbon Centre

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