Hinter dem Lichtkegel der Autoscheinwerfer beginnt eine weiße Masse aus Nichts. Die Welt ist wie in Watte gepackt. Zäher Nebel hat die nordöstlichen Zipfel Schottlands im Griff. Geisterhaft wirken die die Konturen eines Hochlandrinds auf der Weide. Vor dem Fahrzeug tauchen graue Gestalten auf: Radler mit dicken Packtaschen. Wo wollen die denn hin bei diesem Wetter? Sie pilgern nach John o‘ Groats. Der kleine Ort ist Endpunkt einer beliebten Strecke quer durch ganz Großbritannien – von Lands End im Süden Englands bis hierher am Rande Schottlands. Insgesamt sind das gut 1400 Kilometer. Großbritanniens nördlichster Punkt auf dem Festland? Das ist John o‘ Groats nicht ganz – eigentlich ist es Dunnet Head – aber der Ort ist auch nicht das Ziel dieser Fahrt. Wir biegen hier ab und fahren 1.3 Kilometer östlich – zum Duncansby Head. Hier hinter dem 1924 von David Alan Stevenson errichteten Leuchtturm hört das Festland abrupt auf – in einem weißen Nichts. Der kleine Küstenpfad, der hier direkt an einen Parkplatz am Turm beginnt, führt heute scheinbar zum Ende der Welt.
Wo sind die dramatischen Ausblicke, die die schottische Küste sonst Preis gibt? Es duftet nach salziger Seeluft und in das Geräusch der Brandung mischen sich die Schreie von Seevögeln. Myriaden vom Vögeln – dafür spricht auch der beißende Geruch in der Nase. Der Nebel, er täuscht ganz gefährlich. Erst wenn man ganz nah herangetreten ist, zeichnet er sich ab, der Abgrund ins Meer – und die Dimensionen rauben schier den Atem. Bis zu 80 Meter hoch sind die Klippen hier. In der weißen Masse suchen die Augen vergeblich nach einem Punkt am Boden des Abgrunds. Gewaltige Klüfte, sogenannte Geos, tun sich auf und schneiden tiefe Schluchten in die Küstenlandschaft hinein. Wenige Meter vom Weg entfernt nisten die Vögel zwischen den Felsen in atemberaubender Höhe. Von hier oben segeln sie hinab in das Weiß und ihre Schreie hallen lange nach. Es sind Möwen, Alke, Tordalke, Eissturmvögel und an der einen oder anderen Stelle hocken Papageitaucher, die sonst fast nur auf den Inseln heimisch sind, mit ihren bunten Schnäbeln.
Je nach Jahreszeit sind es insgesamt bis zu 10.000 Vögel, die an diesem
Ort zusammenkommen. Hier finden sie nicht nur riesige steinerne
Wohnburgen, die sie vor Räubern schützen. Die reichen Fischgründe sind
ein idealer Futterplatz zur Aufzucht. Auch eine Seehundkolonie nimmt
diesen reich gedeckten Tisch gerne in Anspruch. Von der Ferne her ein
klagendes Singen. Sind es die Seehunde, Seelöwen, Meerjungfrauen oder
gar Seeungeheuer, die begleitet von der Brandung ihre Lieder
anstimmen? Der Volksglaube erzählt von einer Meerjungfrau in den
Gewässern vor Duncansby Head, die gutaussehende Männer mit Schätzen zu
sich gelockt und dann an einer goldenen Kette unter dem Meer gefesselt
haben soll. Neu heute sollen sie dort ihr Dasein fristen. Doch der Nebel
gibt nichts Preis. Es dauert einige Zeit, bis der Wind ihn fortträgt.
Dann sind sie zu sehen: die Zipfel der Duncansby Stacks im Nebel. Es
sind Felsen aus rotem Sandstein, die wie Zwergenmützen aus dem Meer
herausragen. Der pyramidenförmige Great Stack misst gut 60 Meter. Vor
ihnen liegt das Thirle Door – ein imposanter Felsenbogen. Hier braust
das Meer direkt an die schottische Küste. Wind, Wasser und die
Temperaturen haben gemeinsam diese Formationen geschaffen. Sie gehören
zu den imposantesten Küstenabschnitten Großbritanniens. Gewöhnlich sind
hier die nahen Orkney-Inseln zu sehen – wenn es die Sicht nur erlauben
würde. Nun, da der Zaubernebel langsam verschwindet, tauchen links und
rechts immer mehr Touristen mit Kameras im Anschlag auf. Seeungeheuer
wie Meerjungfrauen verschwinden – langsam wie der Nebel – zurück in ihre
Zauberwelt.
Zu den Duncansby Stacks gibt es im Sommer täglich Wildlife Cruises mit einem Tourenanbieter in John o‘ Groats.
Michael Schmidt
-Freelance Reporter
Zusätzliche Informationen
- Webseite von John O‘ Groats Ferries
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